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Filmrezension: Crimes of the Future

crimes of the future newsIrgendwann in der Zukunft: Staatliche Kontrolle beherrscht das Geschehen und Maschinen „leben“ mitunter fast in symbiotischer Beziehung zu Menschen. In dieser Welt lebt Saul Tenser. Tenser ist Performance-Künstler. Wenn man es denn so nennen will, dass er sich vor Publikum von seiner Partnerin Caprice zuvor im Körper zusätzlich ausgebildete und von Caprice tätowierte Organe aus dem Leib schneiden lässt.

 

 

In einer Welt, in der Schmerz keine Rolle mehr spielt, wird die Herausforderung, Menschen zu unterhalten eben größer. Eine faszinierende Beobachterin dieses Schauspiels ist Timlin, eine Ermittlerin des National Organ Registry, die als solche Organe katalogisiert und registriert. Timlin hält das Operieren für die neue Entdeckung der Lust, nachdem Menschen wie Saul den „alten“ Sex schon lange verloren haben. Sie nähert sich Saul an, um Antworten auf ihren Fetisch zu bekommen. Derweil will Lang Dotrice, der Anführer einer Untergrundorganisation, die die nächste Stufe der menschlichen Evolution einleiten möchte, die Bekanntheit von Saul ausnutzen. Der jedoch bekommt es bald mit der Polizei in Verkörperung des Beamten Cope zu tun, der seine ganz eigenen Interessen hat …

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Nachdem zuletzt sein Sohn Brandon in Possessor demonstrieren durfte, dass er ziemlich gut bei den Filmen seines Vaters aufgepasst hat, tritt der Meister nach acht Jahren der Abstinenz vom abendfüllenden Film selbst wieder an. Betrachtet man es nach Erfolg, ist es sogar schon länger her, dass David Cronenberg relevant Spuren hinterlassen hat. Denn der letzte von Publikum UND Kritikern gemochte Film war Tödliches Versprechen von 2007. Seinerzeit mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle, der seit dem 2005er A History of Violence so etwas wie Cronenbergs Muse geworden ist und in Crimes of the Future nun zum vierten Mal mit dem Regisseur zusammenarbeitete. Offenbar verbindet die beiden eine ähnliche schicksalshafte Sicht auf die Welt sowie der gleiche Humor. Fragt man Cronenberg, so gibt er zu Protokoll, dass Mortensen nach all den Jahren einfach „billiger“ geworden sei. Das Vertrauen der beiden geht soweit, dass sie zuletzt die Rollen in Mortensens Regiedebüt Falling tauschten.

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Mit Crimes of the Future kehrt der massiv an der Psychologie und Psychotherapie interessierte Filmemacher nun ganz klar zu den Wurzeln seiner Body-Horror-Filme zurück, für die er jahrelang Paradebeispiel gediente hatte. Werke wie Videodrome, Scanners oder seine geniale Neuinterpretation von Die Fliege lassen dem Horrorfan das Herz aufgehen. Fragt man Cronenberg selbst, kann er mit der Bezeichnung des Body Horror allerdings wenig anfangen und distanziert sich sogar von ihr. Offenbar ist er ein bisschen beleidigt, dass man ihn gerne darauf reduziert (Quelle). Dennoch: Visuell und auch vom Inhaltlichen her ist Crimes of the Future stark mit Werken wie Scanners, Crash oder Die Fliege verbunden. Ging es in Ersterem vor allem um die Zerstörung des menschlichen Körpers, betrachtete Cronenberg in Die Fliege die Transformation – die Metamorphose und Verwandlung in ein leistungsfähigeres, besseres, mithin aber zerstörerischeres Selbst. In Crash hingegen erotisierte er die Welt des Schmerzes, was hier erneut zum Thema gemacht wird – nur, dass Schmerz als solcher bereits transzendiert wurde.

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Crimes of the Future ist weniger zerstörerisch, sondern vielmehr eine Vision. Ein Blick in eine Welt, die Schmerz nicht mehr kennt, der aber die Lust abhanden gekommen ist. In der Mutation des menschlichen Körpers findet Cronenberg die Lust wieder – Operieren ist der neue Sex sagt Timlin irgendwann und hält einer Gesellschaft den Spiegel vor, die sich aufgrund der Überverfügbarkeit von sexuellen Inhalten mehr und mehr enterotisiert. Wie treffend, dass Cronenberg diesen Film erst nun, 20 Jahre nachdem er die Idee dazu entwickelt hatte, inszenierte. Nicht übersehbar zudem, dass der Filmemacher mit seinem jüngsten Werk auch darauf anspielt, dass Performance-Kunst schon lange am Körper stattfindet und man dadurch neue Formen der Erotik sucht. Schon der Kult um die Body-Modification, die mit dem Tätowieren begann und über das Piercing bis zu den Body-Implants oder der Entfernung ganzer Körperteile geführt hat, veranschaulicht das sehr plakativ – und wird durch Caprices Tätowierkunst entsprechend filmisch verewigt. Dabei spart er erneut nicht mit schwer zu verdauenden Szenen. Und er wäre auch nicht der Regisseur so vieler schockierender Filme, wenn er nicht mit einem Knall eröffnen würde.

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Schon die Situation im Badezimmer kommt bedrückend rüber. Wenn die Mutter dann aber die Konsequenz zieht, stößt Cronenberg den Zuschauer erstmalig offensiv vor den Kopf. Dabei gibt der Kanadier an, dass es ihm überhaupt nicht darum gehe, das Publikum zu schockieren. Selbst diese Szene sei nur eine Abbildung der Realität, wenn man ständig in der Zeitung von ähnlichen Dingen lesen würde. Worum es ihm geht, ist vielmehr die Beschäftigung mit der Evolution des Menschen. Cronenberg nennt es das „beschleu­nigte Evolu­ti­ons­syn­drom“, das hier dafür sorgt, dass der mensch­liche Körper immer neue unglaub­liche Stadien erreicht.

Dem Zuschauer wird dabei schnell auffallen, wie schwer es ist, einen Film zu mögen, in dem das Thema Liebe durch Abwesenheit glänzt. Sämtliche Figuren bleiben kühl. Während der eine im Entfernen seiner zusätzlichen Organe eine Art Erlösung aus dem Alltag empfindet, in dem er lediglich durch seltsame biomechanische Vorrichtungen überleben kann, sieht die andere in den Mutationen eine Art Bedrohung, die es auszurotten gilt – immerhin seien es quasi Tumore. Zwischen den beiden Performance-Künstlern besteht zwar eine Beziehung. Liebe kann man das aber kaum nennen
Die Tatsache, dass auch noch eine Kriminalgeschichte erzählt wird, die Cronenberg mit einer rätselhaften Untergrundorganisation unterfüttert, sorgt beim Zuschauer für reichlich Hirnschmalz-Aktivität. Es sei aber gesagt, dass man Crimes of the Future nicht zwingend allumfassend verstehen muss. Schon gar nicht bei oder nach der ersten Sichtung. Interessanter sind vielmehr die Gefühle, die er auslöst – ob nun positiv oder negativ, abstoßend oder anziehend.

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Die Darsteller sind dabei die Vermittler dieser Emotionen. Viggo Mortensen als Saul wirkt ein wenig wie Cronenbergs Alter Ego, wenn er als Künstler sein Innerstes nach außen kehrt. Das macht er durchaus überzeugend, wenngleich der Moment, in dem er sich während einer Operation lustvoll die Lippen leckt, grenzwertig albern wirkt. Kristen Stewart darf hier mal die hektische Persönlichkeit geben und vermittelt die Gedanken ihrer Figur glaubwürdig. Léa Seydoux als Caprice bringt unterkühlte Erotik ins Spiel – und sei es, um ihr Ziel zu erreichen. Eine überzeugende, fast durchtrieben wirkende Darbietung. Erwähnt werden darf und muss auch der Score von Howard Shore, mit dem Cronenberg für Crimes of the Future bereits zum 16! Mal zusammenarbeitete. Dessen Elektroklänge erzeugen eine sogartige Wirkung, die dem Film eine zweite Ebene verpassen – von den leicht jubilierenden höheren Tönen bis hin zu den tieferen Frequenzen, die grummelig in den Magen fahren.

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Fazit: Bewertung: 7/10

Crimes of the Future ist nicht Cronenbergs bester Film. Vielmehr eine Kumulation einiger seiner früheren Werke, in der er die Verstümmelung des Körpers und den physischen Zugriff auf sein Inneres zur Kunstform erhebt. Atmosphärisch und darstellerisch ist das ebenso überzeugend wie in den praktischen Effekten (die digitalen hingegen fallen ab) und der musikalischen Untermalung. Allerdings hat er auch seine Länge und wird nicht jedem durchweg gefallen.

 

 

Filminfos und Inhalt: Crimes of the Future

  • Anbieter: WWeltkino
  • Land/Jahr: CA/F/GR/GB 2022
  • Regie: David Cronenberg
  • Darsteller: Léa Seydoux, Kristen Stewart, Viggo Mortensen, Scott Speedman, Tanaya Beatty, Denize Capezza, Don McKellar, Welket Bungué
  • Tonformate dts HD-Master 5.1: de, en // dts HD-Master 2.0: de
  • Untertitel: de
  • Bildformat: 1,85:1
  • Laufzeit: 108 Minuten

 

Autor: Timo Wolters - ((Copyright Szenenfotos: © 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos.))

 

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